Die unbekannte Geschichte des ersten Bildes der RĂŒckseite des Mondes
Vor 50 Jahren konnten die Menschen zum ersten Mal die geheimnisvolle RĂŒckseite des Mondes sehen. Die Sonde Lunik 3 fotografierte sie im Oktober 1959, und die Bilder gingen um die Welt. Kulturell und technisch wurde ein Meilenstein gesetzt. Hinter diesen Bildern steckt eine Geschichte, die erst seit der Ăffnung der russischen Archive erzĂ€hlt werden kann. Es ist eine Geschichte von Spannung, IrrtĂŒmern und Triumph.
WĂ€hrend hunderttausenden von Jahren blickten die Menschen in den Nachthimmel und sahen viele Punkte und eine grosse Scheibe wechselnder Form, ohne je in ihrem Leben zu erfahren, um was es sich dabei handelte und wie es dahinter aussehen könnte. Um ca. 600 v. Chr. vermutete der Grieche Thales, dass die Scheibe des Mondes ein von der Sonne angestrahlter Himmelskörper sein könnte. Da der Mond aber die Ă€rgerliche Eigenschaft hat, sich gleich schnell um die eigene Achse wie um die Erde zu drehen, sah man immer nur die gleiche Seite vom Mond, und die RĂŒckseite schien sich fĂŒr immer der menschlichen Neugierde zu entziehen.
Bis im Oktober 1959!
Mit dem Start des ersten Erdsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 wurde zwischen der UdSSR und der USA ein Wettlauf um Erfolge im Weltraum eingelĂ€utet. Schon bald beschlossen beide Nationen je ambitionierte Programme Richtung Mond. Am 10. Juli 1958 misslang der UdSSR der erste (geheime) Versuch dazu, der US-Air Force am 17. August der ihrige â dieser allerdings in aller demokratischer Ăffentlichkeit. Nach zahlreichen Misserfolgen schlug aber vor 50 Jahren, am 14. September 1959, erstmals ein menschliches Objekt erfolgreich auf dem Mond auf. Es war die sowjetische Sonde Lunik 2. Die USA gerieten damit nach Sputnik auch beim Mond prestigemĂ€ssig ins Hintertreffen und reorganisierten ihr Mondprogramm nun komplett.
Doch die UdSSR gönnte den USA keine Atempause: Schon im August 1959 traf auf dem sowjetischen Raketenstartplatz Baikonur in aller Eile eine neue, 280 kg schwere Sonde namens Lunik 3 fĂŒr den nĂ€chsten Ăberraschungscoup ein. Um keine Zeit zu verlieren, wurde die Sonde sogar schon ausgeliefert, bevor die Schlusskontrolle im Werk vorgenommen worden war. Dies tat man dann so gut wie möglich noch auf dem Startplatz, und am 25. September war die Sonde tatsĂ€chlich startklar.
Die UdSSR wartete noch bis zum prestigetrĂ€chtigen zweiten Jahrestag des Sputnik 1, und startete am 4. Oktober 1959 ihre siebte Rakete Richtung Mond. Offiziell war es jedoch erst die dritte Rakete, da die vorherigen FehlschlĂ€ge von Staatschef Chrustchev â sogar mit Schwur auf die Bibel – abgestritten wurden. Ziel der neuen Mission war das Fotografieren der RĂŒckseite des Mondes. NatĂŒrlich publizierte die staatliche Nachrichtenagentur das nicht. Die UdSSR gab damals nĂ€mlich â im Gegensatz zu den USA â Missionsziele systematisch nicht bekannt. Dies hatte den Vorteil, dass nachtrĂ€glich jedes mögliche Missionsergebnis als âvoller Erfolgâ ausgegeben werden konnte.
Der Flug fĂŒhrte Lunik 3 nun auf einer der Ziffer 8 Ă€hnlichen Bahn zuerst ĂŒber den irdischen Nordpol, dann Richtung SĂŒdpol des Mondes, der in der Nacht vom 6. Oktober ĂŒberflogen werden sollte, um dann hinter dem Mond in nördlicher Richtung abgelenkt zu werden, zu fotografieren, zu ĂŒbermitteln, und dann den RĂŒckflug zur Erde anzutreten. Doch es sollte nicht so einfach gehen: Der Mond schien sich nach Milliarden Jahren der Ruhe zuerst vehement gegen den ungebetenen Voyeur zu wehren! Als erste Anomalie stieg ab 6. Oktober die Innentemperatur der Sonde plötzlich an. Sie erreichte schliesslich 40°C â weit ĂŒber der Nominaltemperatur von 25° C. Lunik 3 drohte das technische Aus durch Ăberhitzung. Noch als man Lösungen suchte, kam schon das nĂ€chste Problem; die Funksignale wurden immer schwĂ€cher und schwĂ€cher.
In einer Blitzaktion reiste noch am selben Morgen der bis zu seinem Tode 1967 vollstĂ€ndig geheim gehaltene Chefkonstrukteur Sergei Koroljow mit einigen Ingenieuren zur Empfangsstation. Diese lag abgelegen auf dem Berg Koschka, nahe dem bekannten Kurort Simeis auf der Krim. Starker Schneefall erschwerte die Reise massiv, und die Gruppe traf erst gegen 14.30 Uhr vor Ort ein. Die FunkausrĂŒstung fĂŒr den Kontakt zu Lunik 3 war â anders als man sich Hochtechnologie vorzustellen pflegt – in fahrbaren Trailern untergebracht, die eigentliche Kontrollstation in einer Holzbaracke, und fĂŒr die Operateure dienten Zelte und eine mobile KĂŒche als notdĂŒrftige Unterkunft in der KĂ€lte.
In Eile wurde eine Lösung ausgearbeitet: Die Drehrate der Sonde sollte reduziert und einige Subsysteme ausgeschaltet werden. Um 16.00 Uhr wurden die Kommandos zu Lunik 3 gefunkt und mit Spannung die Ergebnisse beobachtet. Und tatsĂ€chlich, die Temperatur sank auf tolerable 30°C, und die SignalstĂ€rke war wieder normal. Doch die Freude darĂŒber sollte nur von kurzer Dauer sein.
Zum Entsetzen des Chefkonstrukteurs stellte man nĂ€mlich fest, zu wenig Spezialpapier zur Aufzeichnung der in BĂ€lde erwarteten Bildsignale zu haben. Koroljow geriet in einen seiner gefĂŒrchteten ZornesausbrĂŒche, denn in Simeis gab es auch kein solches Papier. WĂŒtend informierte Koroljow sofort seinen Vorgesetzten Rudnew in Moskau, Minister des Staatskomitees fĂŒr Verteidigungstechnik, und bat um Hilfe. Dann tĂ€tigte er weitere Telefonate nach Moskau, sowie zu FlughĂ€fen, wo er versuchte, mit möglichen Helfern verbunden zu werden. Alles, inkl. Sondergenehmigungen, musste innert Stunden organisiert sein. Und der Kraftmensch Koroljow, der schon Stalins KZ ĂŒberlebt hatte, schaffte das Unmögliche. Gerade noch rechtzeitig wurde aus Moskau mit einer Tu-104, dem damals wohl komfortabelsten Verkehrsflugzeug der UdSSR, und anschliessend einem Helikopter, das Spezialpapier in einer Schachtel eingeflogen!
Inzwischen ĂŒberflog Lunik 3 um 17.16 Uhr Moskau-Zeit (14.16 GMT) in 6â000 km Höhe den SĂŒdpol des Mondes. Bis zum âFotoshootingâ waren es noch 13 Stunden. Um jegliche Störungen wĂ€hrend der folgenden BildĂŒbertragung auszuschliessen, wurde Simeis nun fĂŒr den Fahrzeugverkehr weitrĂ€umig gesperrt, der Kriegsflotte auf dem Schwarzen Meer in der NĂ€he der Krim absolute Funkstille vorgeschrieben und fĂŒr die obersten Chefs ein Alkoholverbot fĂŒr die Nacht vom 6. auf den 7. Oktober verordnet!
Am Morgen des 7. Oktober richtete Lunik 3 in ĂŒber 400â000 km Entfernung zur Erde ihre Yenisey-2-Kamera mit zwei Objektiven automatisch auf die MondrĂŒckseite aus. Um 03.30 Uhr GMT nahm sie das erste Foto auf, ohne dass man davon allerdings auf der Erde schon etwas hĂ€tte sehen können. âDer Mond ist empört, dass wir seine verbotene Seite anschauenâ, kommentierte der anwesende Mstislar Keldysch, Vorsitzender der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, den historischen Moment. Ausser ganz wenigen Personen wusste die Welt damals allerdings nichts von dem, was sich beim Mond gerade abspielte.
Der Mond begann sich aber schon bald wieder zu zieren. Kurz nachdem die Kamera nĂ€mlich aktiviert worden war, drohte der Mission erneut Gefahr. Lunik 3 verbrauchte zu viel Energie! Die Akkus begannen sich zu entleeren und gefĂ€hrdeten damit die weitere AufnahmetĂ€tigkeit, den Filmtransport etc. Die Zeit drĂ€ngte. Nach kĂŒrzester Beratung beschlossen die Techniker, die Ăbertragung der gesamten Telemetriedaten von Lunik 3 auszuschalten, natĂŒrlich in der Hoffnung, sie spĂ€ter auch wieder einschalten zu können. Dies war aber im Moment die einzige Möglichkeit, um dem Fotosystem so viel Energie wie möglich zu belassen.
Und es klappte, die Energieversorgung reichte aus. Lunik 3 machte insgesamt 29 Bilder aus rund 65â000 km Distanz zum Mond. Der Mond war damals gerade 5 Tage jung, von der Erde aus eine schmale Sichel und auf der RĂŒckseite somit sehr hell. Die Belichtungszeit wurde automatisch zwischen 1/200 und 1/800 s variiert, in der Hoffnung damit wenigstens einige brauchbare Bilder zu erhalten. Die letzten 11 Bilder liess man unbelichtet im Magazin, um am 24. Januar 1960, wenn die Umlaufbahn zum nĂ€chsten Mal hinter dem Mond durchfĂŒhrte, weitere Bilder aufnehmen zu können.
Wie erst Jahrzehnte spĂ€ter bekannt wurde, erfolgten die Aufnahmen ĂŒbrigens auf einen speziellen amerikanischen 35 mm-Film, den die USA ab Mitte der 50er Jahre fĂŒr ihre Spionageballone âGenetrixâ hoch ĂŒber der Sowjetunion benutzten. Die fĂŒr die UdSSR typische Geheimhaltung funktionierte dermassen gut, dass nicht einmal Spezialisten vor Ort die wahre Herkunft des Filmes kannten. Bis zuletzt wurde â richtigerweise â darauf hingewiesen, dass die Sowjetunion doch noch gar keinen Film entwickelt habe, der beim Durchfliegen des irdischen StrahlungsgĂŒrtels nicht vernebelt wĂŒrde!
Nach 40 Minuten, um 04.10 Uhr, war das letzte Bild aufgenommen. Die TelemetrieĂŒbertragung konnte zur allgemeinen Erleichterung auch wieder reaktiviert werden. Der Film wurde nun in einem SpezialbehĂ€lter, fast eine halbe Million km von der Erde entfernt, automatisch entwickelt, fixiert und getrocknet. Anschliessend wurde jedes Bild von einem Scanner mit 1â000 Zeilen pro Bild abgetastet, gespeichert und fĂŒr die Ăbertragung per Funk zur Erde vorbereitet. Damit die Signale empfangen werden konnten, musste natĂŒrlich gewartet werden, bis sich die Erde soweit gedreht hatte, dass der Berg Koschka wieder ins Sichtgeld von Lunik 3 kam.
Noch am 7. Oktober begann aus 470â000 km Entfernung die erste BildĂŒbertragung zur Erde. Doch das zuerst erhaltene Bild war derart schlecht, dass jemand im Raum nur sarkastisch bemerkte, âNun wissen wir wenigstens, dass auch die MondrĂŒckseite rund ist … â. Weniger gelassen reagierte der Chef der FunkgerĂ€teentwicklung: Er nahm das Bild aus dem Apparat und zerriss es gleich vor Wut. âWarum so stĂŒrmisch?â, versuchte Koroljow die Stimmung zu entspannen. Doch auch die nĂ€chsten Bilder brachten (gemĂ€ss der meisten Quellen) zur grossen EnttĂ€uschung keine besseren Resultate.
ZĂ€hneknirschend wurde beschlossen, in diesem Fall nochmals 11 Tage zu warten, bis Lunik 3 wieder in ErdnĂ€he kam. Ărgerlicherweise flog die Sonde nĂ€mlich nun der Physik folgend zuerst noch weiter von der Erde weg, erreichte am 11.10. in 480â000 km den erdfernsten Punkt, machte langsam kehrt, erreichte am 15.10. erst einmal wieder Monddistanz und nĂ€herte sich nochmals drei Tage spĂ€ter der Erde auf 48’000 km.
Am 18. Oktober versuchte man erneut, die Bilder abzurufen. Doch der Mond wehrte sich ein letztes Mal, die Signale waren zu schwach. Beim nĂ€chsten Versuch machte statisches Rauschen die Bilder unbrauchbar. Dasselbe beim ĂŒbernĂ€chsten Versuch. Die Stimmung erreichte einen Tiefpunkt. Doch beim fĂŒnften Versuch wurden die Signale plötzlich signifikant stĂ€rker. Und tatsĂ€chlich, das erste Bild wurde ĂŒbermittelt! Dann das zweite, das dritte und so weiter. Von den 29 aufgenommenen Bildern waren deren 17 brauchbar. Rund 70% der MondrĂŒckseite waren abgelichtet.
Damit ging das Ereignis durch eine kulturelle und eine technische Erstleistung gleich doppelt in die GeschichtsbĂŒcher ein: Erstmals wurde die RĂŒckseite des Mondes fĂŒr Menschenaugen sichtbar gemacht, und erstmals erhielt man durch eine Raumsonde Daten eines Himmelskörpers, die mit keiner anderen Technologie hĂ€tten gewonnen werden können.
Die schwarz-weiss-Bilder waren zwar alle von bescheidener QualitĂ€t, doch sie zeigten, dass die RĂŒckseite zwar auch grosse Krater, aber kaum die dunklen Flecken wie die Vorderseite aufweist. Die Dichotomie der MondoberflĂ€che war entdeckt! Doch obwohl eigentlich augenfĂ€llig, wurde das PhĂ€nomen selbst durch Fachleute erst spĂ€ter erkannt. Heute kennen wir auch den Grund dieser Asymmetrie. Das Massenzentrum des Mondes liegt 1â700 m nĂ€her zur Erde als das Formzentrum. Daher fluteten die inneren Konvektionsstömungen des Mondes vor rund 3.5 Mrd. Jahren eher die erdzugewandten Grosskrater mit dem heute dunklen Basalt, als die HochlĂ€nder der RĂŒckseite.
Als NĂ€chstes wurden die wichtigsten erkennbaren Formationen identifiziert und natĂŒrlich v.a. mit russischen Namen versehen. Nicht alle diese voreilig vergebenen Namen wurden spĂ€ter allerdings auch international anerkannt.
Am 19. Oktober sickerten erste GerĂŒchte durch, die Sowjetunion habe angeblich Bilder der MondrĂŒckseite. In den nĂ€chsten Tagen wurden 3, spĂ€ter 6 Bilder zur Publikation ausgewĂ€hlt, und am Dienstag, 27. Oktober publizierte die UdSSR diese ersten, heiss erwarteten Bilder. Diese Aufnahmen gingen danach durch die ganze Weltpresse, und oft fĂŒllte das Thema âErste Aufnahme von der RĂŒckseite des Mondesâ die ganze Frontseite. Jedoch kam auch Sorge zum Ausdruck: Eine Schweizer Zeitung schrieb z.B., wer eine Sonde um den Mond dirigieren könne, könne auch eine Rakete von Sibirien nach Kalifornien schicken.
Diese Schlussfolgerung war fĂŒr diese Zeit so typisch wie falsch zugleich. Der Transport eines Körpers ĂŒber grosse Distanzen war nĂ€mlich technisch einfacher zu lösen als die RĂŒckfĂŒhrung einer Kapsel – oder eben einer Bombe â zur Erde, ohne VerglĂŒhen beim Abbremsen in der AtmosphĂ€re. Die USA hatten diese Technologie 1959 schon weitgehend entwickelt, die blendende UdSSR aber erst spĂ€ter.
Am 22. 10. war inzwischen der Kontakt zu Lunik 3 unvorhergesehen abgebrochen. TASS schrieb vier Tage spĂ€ter geschickt, Lunik 3 âfunktioniereâ (was das auch immer heissen mochte) noch weitere 6 Monate. Doch effektiv scheiterte jeder neue Kontaktversuch, die Verbindung blieb tot. Die erneute Mondpassage am 24. Januar 1960 verstrich somit ungenutzt, und die 11 verbliebenen Bilder im Magazin konnten nicht mehr belichtet werden. Ende April 1960 verglĂŒhte Lunik 3 nach 11 ErdumlĂ€ufen endgĂŒltig in der ErdatmosphĂ€re. Interessanterweise scheiterten 1960 dann die zwei Versuche, die Mission zu wiederholen, trotz der bei Lunik 3 gewonnen Erfahrungen.
Die sowjetischen Erstleistungen im All waren bis zu Beginn der 70er Jahre spektakulĂ€r, aber programmatisch oft Sackgassen. Sie waren propagandistisch jedoch derart gut inszeniert, dass viele Menschen nicht erkannten, dass die USA die Raumfahrt ab GrĂŒndung der NASA 1958 viel systematischer, besser organisiert (und mit mehr Geld) vorantrieb. So kam es, dass 1969 zwar weniger die Fachleute, dafĂŒr aber umsomehr viele Laien erstaunt waren, als die Amerikaner mit Apollo 11 den Mond zuerst betraten.
Hermann DĂŒr, Raumfahrt-Amateurhistoriker, Burgdorf, Schweiz
Literatur (Auswahl)
Asif A. Siddiqi, Sputnik and the sowjet space challenge, Florida 2003
Paolo Ulivi, Lunar Exploration – Human pioneers and robotic surveyors, New York 2004
Brian Harvey, Soviet and Russian Lunar Exploration, New York 2007
Borris Tschertok, Raketen und Menschen â Der Sieg, Koroljows, Elbe Dnjepr-Verlag, 2000
NZZ vom 28.10. 1959 (Fernausgabe)